Nachdenklich betrachten wir
die riesigen Felsblöcke im türkisfarbenen Wasser des
Gletschersees Loenvatn, stumme Zeugen großer
Naturkatastrophen in den Jahren 1905 und 1936, als gewaltige
Gesteinsmassen vom Bergmassiv Ramnefjell abbrachen und in
den See stürzten. Viele Menschen kamen dabei ums Leben.
Ausgangspunkt der Wanderung
- wir befinden uns in der inneren Nordfjordregion - ist ein
kleiner Parkplatz bei den Gehöften von Bødal oberhalb des
Loenvatn. Unmittelbar vor der Brücke über den Wildbach
Bødalselva zweigt nach links ein gebührenpflichtiger
Fahrweg ab. Diesem folgen wir bergauf durchs Bødal. Zu
unserer Rechten bieten sich dabei immer wieder Ausblicke auf
den Bødalselva. Im unteren Bereich des Tals dominiert
zunächst Nadelwald, und im lichten Halbschatten am
Wegesrand finden sich zuhauf die rosa-lilafarbenen
Fingerhüte. Weiß blühende Schafsgarbenarten, die fast
überall vorkommenden blauen Glockenblumen, sowie der
lilafarbene Waldstorchschnabel sind ebenfalls anzutreffen.
Während der Fahrweg anfangs leicht bergan führt, windet er
sich alsbald in Serpentinen steil empor. In einer der vielen
Kehren stehen wir unmittelbar am Bødalselva, der hier die
Felsen hinabstürzt. Angenehm ist die Kühlung, die vom
Wasserfall herüberweht. Der Himmel ist zwar ein wenig
bedeckt, aber es ist ein sehr warmer Sommertag, und bei dem
Anstieg gerät man mächtig ins Schwitzen.
Ebereschen,
Erlen und Birken
Der Blick zurück zeigt,
dass wir schon eine gewisse Höhe erreicht haben. Tief unter
uns, in einer Senke, liegt der Loenvatn. Das langgezogene,
steilwandige Tal, in dem er sich befindet, ist so eng, dass
wir ihn nicht mehr sehen können. Direkt uns gegenüber
liegt das Ramnefjell, und darüber erblicken wir den
Gletscher Ramnefjellbreen. Der Nadelwald ist inzwischen
längst gewichen und hat Laubbäumen wie Ebereschen, Erlen
und Birken Platz gemacht. Haselnusssträucher sind reichlich
vorhanden. Anfangs des Jahrhunderts wurden von den Menschen
im Bødal noch massenweise Haselnüsse geerntet; später
jedoch verwilderten die Bestände. Niedrige Weidenarten,
Farnkraut und Blaubeersträucher (letztere wachsen auch im
unteren Talabschnitt) sind nun auch zugegen.
Heidekrautbewuchs nimmt allmählich immer stärker zu. Eine
Weile wandern wir noch im steilen engen Bødal, und bald
erreichen wir einen kleinen Parkplatz. Nur wenige Autos
haben den Weg hinauf gefunden. Diese Gletscherzunge ist eben
doch nicht so bekannt und besucht wie andere des großen
Jostedalsbre.
Schneelawinenunglück
Vom Parkplatz an weitet
sich das Bødal schlagartig, und der Pfad verläuft nun
nahezu eben, parallel zum Bødalselva, der in diesem
Abschnitt relativ träge dahinfließt. Es scheint so, dass
noch rege Viehhaltung betrieben wird, wenn man das häufige
Vorhandensein von Kuhfladen als Maßstab nimmt. Und
tatsächlich kommen uns dann auch einige Kühe gemächlich
entgegen getrottet, hier und da das Grün von den
Birkenzweigen zupfend. Kurz darauf erblicken wir die
Almwiesen und Sennhütten von Bødal, Bødalssætra genannt.
Die große Anzahl der gut erhaltenen Hütten deutet
daraufhin, dass der Seter noch eine gewisse Bedeutung hat,
was nicht selbstverständlich ist; denn viele Seter in
Norwegen sind heutzutage aufgelassen. Früher standen die
Sennhütten weit auseinander. Nach dem Unglück von 1893,
als Schneelawinen die Hütten zerstörten, wurden diese eng
aneinander wieder aufgebaut. So stehen sie heute noch. Warum
man die Hütten nach dem Lawinenunglück dicht an dicht
gebaut hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht
wollten die Senner die Angriffsfläche vor weiteren Lawinen
möglichst begrenzen. Bødalssætra liegt wahrlich idyllisch
inmitten eines Hochtales (600 m ü. NN), mit großen
Weideflächen. Hohe, gletscherbedeckte Berge umgeben die
Alm. Überall fließt Gletscherwasser die Felswände
herunter und ergießt sich in den Bødalselva. Grandios ist
das Panorama der Sennhütten mit Blick zum Gletscher
Skålbreen. Über die stellenweise feuchten Wiesen, auf
denen Schafe weiden, gelangen wir dann zum Seter. Es scheint
kein Mensch anwesend zu sein. Eine Holztafel weist darauf
hin, dass hier die geführten Gletschertouren beginnen.
Einem Schild mit der Aufschrift Bødalsbreen folgend,
wandern wir über die Almwiesen und überqueren den
grünlich schimmernden, vom Gletscherwasser milchigen
Bødalselva. In einer seichten Stelle des Wildbachs ist sehr
deutlich das feine Moränenmaterial zu erkennen, das unter
dem Gletschereis hervorgespült und mit dem Gletscherwasser
zu Tal geschwemmt wird.
Blaubeeren
und Krüppelbirken
Unmittelbar hinter dem Bach
biegt der Pfad nach links, und wir wandern jetzt an der
rechten Talflanke entlang. Der Weg verläuft nun sanft
bergauf und ist problemlos zu bewältigen. Einige morastige
Stellen, die wohl vom Vieh ausgetreten wurden, sind leicht
über Steine, Holzstege und kleine Holzbrücken zu
passieren. Ansonsten wandert man recht weich auf dem
heidekrautbewachsenen Boden. Auch hier, im oberen Bødal,
wachsen noch Blaubeeren, Farne und niedrigwüchsige
Weidenarten, während nur noch Krüppelbirken als richtige
Bäume vorkommen.
Blaues
Eis
Etwa eine halbe Stunde sind
wir ab Bødalssætra unterwegs. Plötzlich erblicken wir
über die Birken hinweg erstmals die gewaltige Eiszunge des
Bødalsbre. Bläulich funkelt das Eis trotz des noch leicht
bedeckten Himmels. Einige dunkle Punkte auf dem Gletscher
wecken meine Neugier. Mit Hilfe des Fernglases erkenne ich,
dass es sich um eine Gletschertour handelt, an der acht
Personen teilnehmen.
Gefährlicher
Gletscher
Nun wird die Vegetation
doch merklich karger und der Pfad steiniger. Das obere
Bødal, durch das der Weg sich windet, ist wirklich
wildromantisch. Es handelt sich hierbei um ein typisches
Gletschertal, welches von riesigen Eismassen tief
ausgeschliffen wurde. Das Eis reichte früher einige hundert
Meter vom heutigen Talboden empor, denn die Ablagerungen des
Gletschers, das Moränenmaterial, reichen weit die
Berghänge hinauf und lassen sich als Linie (Seitenmoräne)
an den Felswänden erkennen. Bald darauf erreichen wir den
Gletschersee Sætrevatn. Auch hier ist jede Menge
Moränenmaterial vorhanden. Über den See blickt man zum
1787 m hohen Skålefjellet. Im Rücken den Bødalsbre, mit
herrlichem Ausblick auf das Bødal, schweift der Blick auf
den Gletscher Tindefjellbre (1814 m). Gut eine Stunde,
nachdem wir Bødalssætra verlassen haben, stehen wir am
Bødalsbreen. Ganz heranzugehen, davor warnt uns ein Schild.
Da die Gletscher ständig in Bewegung sind, kann es
lebensgefährlich sein, sich zu nahe heranzuwagen. Jederzeit
können große Eisblöcke von den Steilkanten abbrechen und
herabstürzen. Wie an anderen Gletscherzungen des
Jostedalsbre, so herrscht auch im näheren Bereich des
Bødalsbre ein kalter Wind, so dass es ratsam ist, bei solch
einer Wanderung immer den Pullover mitzuführen. Überrascht
sein wird man sicherlich, dass so nahe am Gletscher im
eiskalten Gletscherwasser des Schotterfeldes noch einige
Pflanzen gedeihen können. So sehen wir z. B. vereinzelt
Heidekraut, Glockenblumen, Gletscher-Hahnenfuß und sogar
noch Waldstorchschnabel.
Gletschertor
Jetzt, zur Sommerzeit,
tritt viel Schmelzwasser aus dem Gletschertor aus und
fließt in einiger Entfernung in den tieferliegenden
Gletschersee. Man kommt sich schon ziemlich klein vor, wenn
man diesen enormen Eismassen gegenübersteht und bedenkt,
nur einen winzigen Teil des gewaltigen, 487 Quadratkilometer
großen Jostedalsbre zu sehen. Abgesehen von der
achtköpfigen Seilschaft, die gerade weit oben am
Bødalsbreen herabsteigt, sind wir fast die einzigen, die
dieses Naturschauspiel fernab der Touristenströme
bewundern. Wie gut, dass man hier nur zu Fuß hinkommt! Nach
diesen Eindrücken wird uns der acht Kilometer lange
Rückweg durch das imponierende Bødal bei mittlerweile
blauem Himmel nicht schwerfallen.
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